Sicherheit in München
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

Das "ungute" Gefühl" - der Tag nach dem Amoklauf im Münchener OEZ

„Es hat uns erreicht. Das ungute Gefühl hat die Menschen in München schon lang begleitet. Mit jedem Anschlag in Paris, Istanbul oder Brüssel ist die Sorge gewachsen. Bang haben viele ans Oktoberfest gedacht. Seit Freitagabend ist klar: Es gibt keine Sicherheit, nirgendwo, nicht einmal in der sichersten deutschen Großstadt.“

(Michael Schilling, 23.07.2016, Abendzeitung, S. 1)

Am 23.07.2016 bin ich auf dem Weg in die Münchener Innenstadt, um meine Einkäufe zu erledigen, Normalität zu leben wie es immer wieder medial gefordert wird – z.B. von Florian Gathmann auf Spiegel Online, am 15. Juli 2016:

„Ist derjenige feige, der sich so verhält? Oder derjenige stumpf, der keine Angst hat? Es gibt kein Richtig und kein Falsch in dieser Frage. Es gibt seit Nizza allerdings noch mehr Anlass, Angst zu haben. Und trotzdem wäre es allein deshalb wünschenswert, diesem Gefühl nicht nachzugeben, damit die Terroristen nicht zusätzlich triumphieren. Vielleicht ist es mutig, einfach seinem Alltag nachzugehen. Vielleicht auch nur sorglos.“

An der Ampel Sophienstraße, Elisenstraße treffe ich eine ältere Frau, die nach einem kurzen „Grüß Gott, sie sind ja auch unterwegs“ das Gespräch unverzüglich darauf leitet, dass man trotz dieser „schrecklichen Tat“ doch nicht „daheim bleiben sollte“! Da ist sie wieder „die Einforderung von Normalität“ angesichts von menschenleeren Straßen. Ich frage, wie sie sich fühle und sie antwortet gelassen und abgeklärt: „Es ist eine schreckliche Tat. Und das hier in München! Aber das ist noch lange kein Grund, daheim zu bleiben. Es war ja kein Terrorakt!“. Sie holt aus ihrer Tasche eine Zeitung und überreicht sie mir.

Ich halte die aktuelle Ausgabe der Abendzeitung vom Samstag, den 23. Juli 2016, in meinen Händen. In großen Lettern mit weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund lese ich den Titel „Terror! 9 Tote. Eine Stadt in Angst“ auf der ersten Seite. Rechts daneben befinden sich zwei großformatige Fotos. Das obere zeigt David und drei Personen, die vor ihm flüchten. Auf dem unteren Foto ist ein zugedeckter Leichnam auf dem Boden liegend abgebildet. Links unten auf der Seite befinden sich weitere zwei Fotos. Das obere zeigt das Einkaufszentrum Mona neben dem OEZ, Polizeifahrzeuge und Einsatzkräfte auf der Straße. Auf dem unteren Bild sind sieben Polizisten abgebildet, die sich vor dem OEZ in Stellung bringen. Insgesamt ist die Seite durch den schwarzen Hintergrund düster gestaltet.

„Das war aber gar kein Terroranschlag“ betont die ältere Frau. Das wisse sie aus den Nachrichten im Fernsehen. Die Zeitung habe wohl die aktuellen Erkenntnisse vor Redaktionsschluss nicht einarbeiten können und mit so einem Titel die Münchener_innen zusätzlich verunsichert. Zum Ende des Gespräches weist sie mich darauf hin, dass „die Angst kein guter Begleiter“ sei und löst bei mir die Frage aus, inwiefern die Erkenntnis, dass es sich um einen Amoklauf und nicht um einen Terroranschlag handelt, für das „ungute“ bzw. „gute“ Gefühl verantwortlich ist? Wann haben wir Angst und warum?

Oberirdisch führe ich meinen Weg zum Karlsplatz (Stachus) fort und komme am Brunnen an, der typischerweise von Münchener_innen als öffentlicher Raum genutzt wird. Regelmäßig konnte ich an vergangenen Samstagen Familien mit Kindern, Straßenkünstler_innen, Jugendliche, die den Brunnen als Treffpunkt nutzen, Menschen, die hier essen und trinken, beobachten. Heute pulsiert das Leben am Brunnen nicht. Die Münchener Polizei hatte am Vortag über den Kurznachrichtendienst Twitter und Internetformate mitgeteilt, dass aufgrund von Gerüchten über eine Schießerei in der Innenstadt eine Panik am Stachus ausgebrochen sei. Obwohl sich diese Gerüchte nachträglich nicht bestätigt haben, wird am Folgetag dieser öffentliche Raum von Münchener_innen offensichtlich gemieden.

Auch mein Blick durch das Karlstor entlang der Neuhauser Straße erreicht nur vereinzelte Passanten. Üblicherweise ist samstags ab 10.30 Uhr eine Menschentraube in der Fußgängerzone unterwegs. Der Einzelhandel und die Gastronomie öffnen samstags ihre Türen zwischen 9.30 Uhr und 10 Uhr und laden zum Einkaufen und Verweilen ein. An diesem Tag haben jedoch einige Geschäfte geschlossen und die Geschäfte, die geöffnet sind, haben an den Eingängen privates Sicherheitspersonal positioniert. Das interessiert mich; ich entscheide mich die Maßnahmen eines Kaufhauses genauer zu beobachten und mache einen Spaziergang um das Gebäude herum. Das Gebäude besitzt drei Eingänge für Kunden. Auf der Neuhauser Straße befindet sich der Haupteingang mit vier Glastüren, auf der rechten und linken Seite des Gebäudes befindet sich je ein Seiteneingang mit zwei Glastüren. Insgesamt acht Männer des Sicherheitspersonals stehen außen vor den Eingängen. Ihre Haltung ist kontrolliert und aufmerksam, sie schauen jeden einzelnen Passanten_in genau an. Auch ich werde, als ich das Gebäude betrete, sehr genau fokussiert, jedoch nicht angesprochen.

Ich bewege mich auf den verschiedenen Etagen und beobachte, wie viele Kunden_innen und wie viel Personal sich in dem Gebäude aufhalten. Insgesamt kann ich nur acht Kunden_innen ausmachen. In den Abteilungen, so scheint es mir, sind die für einen Samstag üblichen Anzahlen an Verkäufer_innen und Kassierer_innen anzutreffen. Eine Verkäuferin spricht mich auf der ersten Etage in der Damenabteilung an und fragt, ob sie mir behilflich sein könne. Ich nutze diese Kontaktaufnahme, um sie danach zu fragen, wie ihr „Gefühl“ nach dem gestrigen Tag ist. Es wird schnell deutlich, dass sie sich unwohl fühlt, es komisch findet, heute zur Arbeit zu kommen und zu funktionieren. „Sie müssen wissen, ich habe eine 13jährige Tochter, die jetzt zu Hause ist. […] Es ist alles so schrecklich. Ich wäre gerne heute daheim bei meiner Tochter und würde meine Zeit mit meiner Familie verbringen. Das geht ja nicht. Ich muss arbeiten. Es ist absurd, heute so zu tun, als wäre nichts passiert. […] Ich liebe meinen Job, aber heute die Kunden anlächeln und beraten, ist doch irgendwie verrückt. Sie sehen ja selbst, wie wenig los ist. Da hätte ich auch gleich zu Hause bleiben können.“

Im Laufe des Gespräches wird deutlich, dass sie vor dem Hintergrund des gestrigen Tages stark verunsichert ist. Daher hätte sie ihrer Tochter untersagt, sich heute mit Freunden_innen „draußen“ zu treffen. Für sie sind nun öffentliche Räume potentielle Orte der Gefahr. Das Gefühl, dass ihre Familie in der Stadt München relativ „sicher“ ist, erscheint für sie jetzt ebenso fragwürdig wie die Aufrechterhaltung der Normalität, durch den Gang zur Arbeit.

An diesen beiden Gesprächspartnerinnen zeigen sich unterschiedliche Strategien, um das „ungute“ Gefühl nach dem Amoklauf zu kompensieren. Dabei ist die „Normalität“ für die eine Person, die ältere Frau an der Ampel, eine angemessene und notwendige Maßnahme, um den Alltag in öffentlichen Räumen wiederaufzunehmen - die bewusste Entscheidung öffentliche Räume nicht als Räume der „Unsicherheit“ einzustufen. Für die andere Person, die Verkäuferin, ist die Aufrechterhaltung der „Normalität“ nach einem derartigen Ereignis nicht angemessen, sondern „absurd“. Für sie besteht ein Ausnahmezustand, womit das gute Gefühl nur zu Hause als kontrollierbarer Raum gewährleistet werden kann.

Es stellt sich deshalb die Frage: Ist es immer und für alle von uns sinnvoll, die „Normalität“ aufrechtzuerhalten? Was bedeutet das eigentlich? Und bedeutet es nicht auch, wie der Soziologe Jef Huysmans1 argumentiert, dass wir mit dem Aufrechterhalten der Normalität den Politikern_innen und Polizist_innen den Umgang mit der „Unsicherheit“ überlassen? Nach dem Motto: Die werden sich schon um unsere Sicherheit kümmern, Hauptsache wir führen unseren Alltag fort!

Verfasserin: L.E.

Literatur

1 Vgl. Huysmans, Jef (2009): Conclusion. Insecurity and the Everyday. In: Patricia Noxolo / Jef Huysmans (Hg.): Community, Citizenship and the War on Terror. Security and Insecurity. London. 196-207. (weiterlesen)