Wie ich den 22. Juli und die Zeit danach erlebt habe: Meine Erinnerungen an den Amoklauf von David
Meine Erinnerung an den 22. Juli fangen mit dem Ausdruck auf dem Gesicht einer jungen Frau an, die ein paar Meter vor mir steht. Ich frage sie, was los ist. Neben uns gehen einige Menschen rückwärts, andere rennen an uns vorbei. In meiner Vorstellung läuft irgendwo im Einkaufszentrum eine Sonderaktion, mit Konfetti und Knallfröschen. Alle versuchen, möglichst schnell dort zu sein und was abzustauben. Die junge Frau schaut mich an, schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern. Dann höre ich Schreie. Der schießt. Der bringt uns um! Lauft weg! Mein Herz bleibt stehen. Ich bin immer noch da und schaue den Menschen zu, die inzwischen alle an mir vorbei rennen. Schräg gegenüber von mir sehe ich einen Notausgang, an dem eine Frau steht, die Türe offen hält und den flüchtenden Menschen zuwinkt.
Einige bemerken sie und stürmen an ihr vorbei ins Freie. Ich auch. Ich denke mir, was das wohl für eine Frau ist, die jetzt anderen die Türe aufhält. Während ich die Treppen hinabrenne, krame ich nach meinem Handy und rufe meinen Freund an. Ich sage ihm, dass hier geschossen wird. Dann wird mir bewusst, dass seine Anwesenheit mich jetzt nicht rettet, anders als bei anderen Krisen. Ich brauche jetzt meine Kraft zum Rennen und lege auf. Im Hintergrund sind laut Schüsse zu hören. Ich habe Angst, dass uns jemand von hinten erschießt oder vor uns jemand auftaucht und uns abfängt. Weiter. Weiter. Weiter.
Ich spüre sehr schnell, dass ich keine Kraft mehr zum Rennen habe. Es ist schwer abzuschätzen, wie weit man noch kommen muss um in Sicherheit zu sein. Ich gehe davon aus, dass es ein Terroranschlag ist und möglicherweise von überall bewaffnete Menschen auftauchen können. Also entschließe ich mich, zusammen mit anderen, die auch außer Atem sind, in den Kindergarten in der Dieselstraße abzubiegen und mich dort zu verstecken. Dort findet gerade ein Kindergartenfest statt, im Garten stehen Mütter, Väter und Kinder, die Zauntüren zum Garten stehen offen und so kommen wir alle rein. Manche von den Feiernden versuchen sich durch den Eingang am Zaun an den Hereinströmenden vorbeizuschieben um zu ihren Autos zu gelangen, aber es gelingt ihnen nicht. Der Ansturm ist zu groß. Sie wissen nicht, was los ist. Rein! Schnell rein!
Ich betrete den Kindergarten, laufe durch den Raum, der direkt am Garten liegt, nach hinten, zum Flur. Ich fühle mich wie Alice im Wunderland. Zu groß und surreal. An einer langen Miniaturgarderobe kleine Jäckchen, kleine Schühchen stehen auf dem Boden. Winzige Stühlchen und kleine Tischchen. Schöne bunte Bilder an der Wand und dazwischen sammeln sich Mütter, Väter, Kinder, Kindergärtnerinnen und Gestrandete aus dem OEZ. Als ich sehe, wie mehr und mehr Menschen in den Flur kommen dränge ich mich nah an die Tür, die zur Küche des Kindergartens führt und wo ich ein gekipptes Fenster sehe. Ich frage eine der Küchenhilfen, ob sie mir die Adresse sagen kann. Die schicke ich meinem Freund, bevor mein Akku gleich leer ist.
Ich fange an einen Druck auf meinem Brustkorb zu spüren. Ich kann nicht mehr schlucken, aus Angst zu ersticken. Wir sind ausgeliefert. Ich kann hier nicht raus. Vielleicht werden wir erschossen, wenn man uns findet. Ich muss anfangen zu husten, vom Rennen steckt mir Schleim im Hals und ich habe Angst, davon zu ersticken. Eine Frau sagt, sie hätte gesehen, wie ein Mann mit einer Waffe sich in den Kindergarten eingeschleust hat und noch abwartet, bis er uns erschießt. Neben mir steht eine junge Frau. Sie schaut mich an und fragt, ob ich was zu trinken brauche. Ich sage ihr kurz, dass ich die Situation nicht aushalten kann weil ich Klaustrophobie habe und vielleicht eine Panikattacke bekomme. Sie ist eine Zeugin Jehovas, und wenn ich ihr in die Augen schaue werde ich für einen Moment ruhig, bevor mich die Angst wieder packt. Ich muss meine ganze Gedankenkraft aufbringen, um keine Panik zu bekommen, Regelmäßig atmen, vor allem viel ausatmen.
Ich habe für solche Fälle eine starke Beruhigungstablette in meiner Handtasche. Aber ich weiß nicht wie sie wirkt und habe Angst, dass wir gleich nochmal rennen müssen. Deswegen nehme ich sie nicht. Dann kommt die Chefin des Kindergartens, und schließt alle Türen ab. Die Türen zu den Räumen, die zum Garten hinzeigen. Die Türen zu den Küchen. Wir sind alle auf dem Flur eingesperrt. Als sie auch die Tür schließt, neben die ich mich hingestellt habe um das gekippte Fenster aus ein paar Meter Entfernung anschauen zu können, senkt sich eine Glocke über mich. Es wird jetzt der Versuch gestartet, für Ruhe zu sorgen. Wir sollen uns ruhig verhalten, weil man uns sonst findet und erschießt.
Wir gehen alle davon aus, dass gerade ein Terroranschlag stattfindet und die Attentäter in der Gegend unterwegs sind, um möglichst viele Menschen in den Tod zu schicken. Ssscht, ssssscht!!! Sssccchhhttt!!!! Es sind so viele Kinder hier, manche weinen, auch die Mütter. Mir ist nicht nach weinen zumute, ich kämpfe mit der Panik und dem Atmen. Ich telefoniere mit meinem Freund. Er ist mit seinem Mitbewohner auf dem Weg, sie sind ins Auto gesprungen und fahren her. Ich habe inzwischen entdeckt, dass es hinten am Flur Toiletten gibt. Die Menschen hier können also trinken, aufs Klo gehen und ein gekipptes Fenster, durch das zumindest etwas frische Luft hereinkommt. Es ist heiß und es wird zunehmend stickiger.
An der Schwelle zu den Toiletten sitze ich jetzt, und versuche meinen Körper unter Kontrolle zu halten. Mehr aus – als einzuatmen, ruhig bleiben, nicht durchdrehen. Ich weiß nicht wie lange ich das aufrechterhalten kann, es strengt mich an. Ich glaube es war 8 Uhr, als ich mich umdrehe und mein Freund mitten im Flur steht und mit seinen Augen den Raum nach mir ab sucht. Ich laufe zu ihm und umarme ihn. Ab dem Moment ist alles gut, irgendwie. Da hört das traumatische Erleben für mich auf. Er ist da, ich atme auf, ich entspanne mich. Ich bin überrascht, dass ich so reagiere. Sein Mitbewohner ist auch dabei, sie wollen sich nützlich machen. Wasser ausschenken, Leute beruhigen.
Der Empfang ist schlecht oder nicht vorhanden. Man will offensichtlich nicht, dass sich die Attentäter absprechen können. Das Handynetz scheint gestört zu sein. Wir haben keine Ahnung, was abläuft. Ich frage meinen Freund, wie sie es überhaupt in den Kindergarten geschafft haben. Die Dieselstraße lag zu diesem Zeitpunkt innerhalb des abgesperrten Gebiets und wurde von einem Kreis aus Polizisten und später auch SEKs abgeschirmt. Zufällig treffen sie bei den Polizisten den Hausmeister des Kindergartens und erzählen den Einsatzkräften, dass dort vor allem Kinder und Frauen eingesperrt sind und ob man zumindest einen Polizisten entbehren könnte, der sie im Ernstfall verteidigen könnte. Nach einiger Zeit wurden die Polizisten verlegt, und mein Freund, sein Mitbewohner und der Hausmeister blieben übrig. Vor ihnen lag die leere Dieselstraße und am Ende der Kindergarten. Mein Freund ging vor, von einer Deckung zur anderen, winkte den beiden anderen wenn keiner da war und so gelangten sie zum Kindergarten.
Der Amokläufer hat sich gegenüber vom Kindergarten etwa eine halbe Stunde später erschossen, als er von einer Streife angesprochen wurde. Die Vorstellung, dass mein Freund und der Amokläufer zeitgleich und in derselben Gegend ohne Polizeischutz unterwegs waren ist furchtbar. Jetzt wo mein Freund da ist nehme ich die Beruhigungstablette. Einzelne Bilder an die ich mich ab diesem Zeitpunkt noch erinnern kann sind folgende: Wir liegen mit vielen anderen auf dem Boden, mein Kopf auf seinem Schoß, ich döse. Sein Mitbewohner steht irgendwann vor dem Speiseplan im Kindergarten und sagt, dass hier gut gekocht wird. Ein Bombentest. Ich habe kurz wieder Angst, dass wir sterben. (Der Rucksack des Amokläufers, gegenüber von uns, wurde auf Sprechstoff geprüft.) Ein Polizist ist inzwischen da. Oder ist er schon länger da? Ich weiß es nicht. Um 2 Uhr nachts bin ich dann endlich in meiner Wohnung im Olympiadorf. Das war Freitag. Am Sonntag, während ich staubsauge, habe ich eine Panikattacke. Ich rufe das Kriseninterventions-Zentrum an, es kommen zwei wunderbare Mitarbeiterinnen. Ich erkläre ihnen, dass ich es nicht zusammen kriege, am Freitag Angst um mein Leben hatte und jetzt staubsauge.
Der Kontrast erscheint mir in dem Moment zu groß. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht fähig bin diesen Spagat zu verstehen und einzuordnen. Am Abend mache ich mich auf den Heimweg ins Haus meiner Mutter. Dort verbringe ich meine Tage im Garten. Mein Alltag kommt mir fremd vor, als ob ich neben mir stehen würde und nicht wirklich da bin. Nach einer Woche gehen wir zu zweit in den Supermarkt, zum ersten Mal. Ich habe Angst, dass jemand eine Waffe zieht. Ich beobachte alle um mich herum.
Meine subjektive oder gefühlte Sicherheit ist mir verloren gegangen. Ich fange eine Traumatherapie an. Ich verliere meinen Appetit. Ich nehme ab, zu viel und schlafe nur noch wenig. Ich muss umziehen, weil mein Vertrag mit dem Olympiadorf endet. Ich entschließe mich für eine Reise nach Italien, wo ich wieder esse und lache. Dann ziehe ich nochmal um, diesmal in eine WG. Ich lasse mich für ein Semester beurlauben und inzwischen tauchen die traumatischen Erlebnisse vom Juli nicht mehr auf. Es hat sich seitdem viel in meinem Leben verändert, aber das Gefühl von Sicherheit ist wieder da.
L. H.