„Kurdische Organisationen“ in München stehen im Fokus
Foto: München, 22.12.2016 (© L.E.)
Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre beginnen „Kurd_innen“ in Deutschland in Vereinen aktiv zu werden.i Insbesondere sind hierbei die „linken türkischen Vereine“ii Anlaufstellen für „Kurd_innen“ aus der Türkei in Deutschland. Trotz der angespannten Situation zwischen „Kurd_innen“ und Türk_innen im Herkunftsland bemühen sich „Kurd_innen“ und Türk_innen in diesen migrantischen Organisationen Unterstützung entgegenzubringen. Jedoch gewähren Unsichtbarkeit und Exklusion von „Kurd_innen“ in Deutschland auch keine weiteren Zugangsalternativen als genau diese vorgenannten Organisationen.
„Wenn es auch bei einigen türkischen Vereinen zu Lippenbekenntnissen über die Rechte der Kurden reichte“iii, werden die Ziele und Erwartungen der „Kurd_innen“ in diesen Vereinen laut Gottschlich letztendlich nicht berücksichtigt: In Anbetracht der „kemalistischen Tradition“ der „türkischen Linken“ und ihrem Bestreben die „Integrität der Türkei“ aufrechtzuerhalten, bestehen ideologische Konflikte, die nicht überbrückt werden könneniv. Der Ausschluss aus den türkischen Vereinen ist umso eklatanter, weil die in Deutschland lebenden „Kurd_innen“ beispielsweise auch bundespolitisch mit der „Verweigerung muttersprachlichen Unterrichts“ und Nichtberücksichtigung der „kurdischen Namensgebung“ bei Neugeborenen exkludiert werdenv. In der Folge entstehen „private Initiativen“, die sich als Vereine formieren, die „sowohl kurdische Kultur pflegen als auch Hilfe in sozial schwierigen Situationen vermitteln wollen“vi.
Die neu gegründeten „kurdischen Vereine“ Anfang der 1970er Jahre haben alle ähnliche „Programme“ („kurdische“ Kultur, Literatur und Sprache), „Arbeitsweisen“ (Hilfe in rechtlichen und sozialen Fragen) und „Ziele“ (Sichtbarkeit einer nationalen Identität der „Kurd_innen“)vii und sind keineswegs unpolitisch, sondern vermitteln Informationen über die Entwicklungen in den jeweiligen „Kurdengebieten“. Das Besondere an diesen neuen Vereinen ist, dass „Kurd_innen“ hier nicht die Minorität sind.
Nach 1974 wird in diesen „kurdischen Vereinen“ verstärkt auf das „Nationalgefühl“ der „Kurd_innen“ und auf „Kurdistan“viii Bezug genommen, obwohl die Vereine anfangs bewusst nicht mit den Begriffen „Kurden“ und „Kurdistan“ verbunden waren, um keine gesellschaftlichen Vorbehalte zu schüren.
Die Journalistin und Politikerin Sengül Senol zitiert in ihrem Buch über „Kurden in Deutschland“ einen der Gründer dieser Vereine wie folgt:
„Wir wollten die Leute nicht gleich zu Anfang unnötig verschrecken, weil es sich hier um ein Tabuthema handelte. Wenn wir eine dieser Begriffe benutzt hätten, wäre die Wirkung unserer Aktivitäten von Anfang an eingeschränkt gewesen. […] Erstens waren wir unter den Deutschen nicht bekannt, zweitens, und für uns wohl damals am wichtigsten, akzeptierten die Massen von Kurden, die in Deutschland lebten, selbst nicht, daß [sic!] sie Kurden seien.“ix
Die Nationalisierungsbestrebungen und die Ethnisierung der „Kurd_innen“ in Deutschland wirkt sich spaltend auf die bestehenden „kurdischen Organisationen“ aus.x In den Folgejahren kommen folglich weitere „kurdische Vereine“ hinzu, die sich nun zunehmend auch explizit im Vereinsnamen als „kurdische Vereine“ sichtbar machen. Es entstehen aber auch Zusammenschlüsse und Dachverbände. Dabei ist der Dachverband „KOMKAR – Verband der Vereine aus Kurdistan in Deutschland e.V.“ der größte Zusammenschluss „kurdischer Vereine“ in Deutschland. Auf ihrer Website komkar.org stellt sich der KOMKAR als ersten „von den im Ausland lebenden kurdischen Arbeiter und Intellektuellen gegründete[n] Dachverband in der Diaspora“ dar. Die Ziele fasst der Dachverband in zwei Punkte zusammen: unter erstens: „Unterstützung für das Engagement der Kurdinnen und Kurden in der Heimat [zu] erhalten und internationale Solidarität für dieses Engagement [zu] gewinnen.“ und unter zweitens: „Schutz und Erweiterung der sozialen, gesetzlichen und kulturellen Rechte der Kurdinnen und Kurden in der Bundesrepublik Deutschland“xi.
Mit dem Zustrom von asylsuchenden „Kurd_innen“ aus der Türkei in den 1980er bis in die 1990er Jahre hinein wird die funktionelle Bedeutung dieser Vereine für die Politik sichtbar, womit auch die Förderung dieser Vereine einhergeht. Migrantische Organisationen sind Erstanlaufstellen für Migrant_innen und Orte, an denen sie Menschen mit ähnlichen Hintergründen treffen, um in verschiedensten Belangen Unterstützung zu erhalten. Es bestehen weitestgehend keine sprachlichen Barrieren, da diese migrantischen Organisationen von Migrant_innen selbst geführt werden.
Auch in München haben sich seit den 1980ern verschiedene „kurdische Vereine“ gebildet, darunter Jugendvereine, Glaubensvereine, Sportvereine bis hin zu Kulturvereinenxii. 1998 bestehen elf „kurdische Vereine“, die teilweise staatliche Förderungen für kulturelle Veranstaltungen erhalten. Evelyn Roll, Reporterin und Autorin, berichtet in ihrem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 11.05.1998 mit dem Titel „Wenn Kurden Hochzeit feiern“xiii, über das mit Hilfe der Stadt München im Mai 1998 aufgebaute „kurdische Dorf“, welches für die Dauer von einer Woche in Giesing das kulturelle Alltagsleben der „Kurd_innen“ in der Türkei darbietet.
Der KOMKAR zählt bis heute zum wichtigsten „kurdischen Verein“ in München. Er wird vom Verfassungsschutz als „vorwiegend propagandistisch tätig“ beurteilt, wie auch andere „kurdische Vereine“ in München, und rücken in den 1990er Jahren zunehmend in den Fokus staatlicher Organe. Begründet ist diese Haltung durch die Aktivitäten der „Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)“xiv und ihrer Anhänger, die in Deutschland zu Beginn der 1990er Jahre auffällig werden.
Die Ermittlung, wer genau bzw. welche „kurdischen Organisationen“ die PKK unterstützen, ist für die staatlichen Behörden schwierig. Nicht nur staatliche Stellen, sondern auch „kurdische Organisationen“ betonen in diesem Zusammenhang, dass sie nicht erkennen können, ob überhaupt bzw. welche Mitglieder von „kurdischen Organisationen“ in Deutschland mit der PKK sympathisieren.xv Daher bemühen sich die „kurdischen Organisationen“ in Deutschland wiederholt darauf hinzuweisen, dass sie als Organisation die PKK und ihre Aktionen nicht tolerieren und ihren Vereinsmitgliedern diese Haltung auch vermitteln.xvi Dennoch steht ein genereller Verdacht gegenüber „kurdischen Organisationen“ seitens des Verfassungsschutzes im Raum, der durch die Organisationen nicht behoben werden kann.
Aufgrund des Verdachts der Nähe zur PKK werden „kurdische Vereine“ folglich durch den Verfassungsschutz beobachtetxvii. Rechtlich legitimiert sich diese Praxis aus dem gesetzlichen Beobachtungsauftrag des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz nach Art. 3 des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG)xviii.
In der Stadt München wird die PKK am 24.06.1993 aktiv. Das türkische Generalkonsulat wird von sich zur PKK bekennenden, bewaffneten „Kurd_innen“ besetzt, um Bundeskanzler Kohl zu zwingen, „sich bei der türkischen Regierung für eine Beendigung des Krieges in Kurdistan einzusetzen, die Waffenhilfe für die Türkei zu stoppen sowie durch eine Fernsehsendung über die Situation der Kurden in der Türkei zu informieren“xix. 25 Bedienstete und Besucher_innen des Konsulats werden als Geiseln genommen. Die bewaffnete Aktion ist Teil einer europaweiten Operation der PKK gegen türkische Einrichtungen.xx Der Münchner Merkur druckt am 25.06.1993 eine Reaktion des Journalisten Wilhelm Christbaum, in der es heißt:
„Die Kurden sind in Deutschland und in anderen europäischen Ländern Gäste. Gestern haben einige von ihnen das Gastrecht kriminell mißbraucht [sic!]. Die Kurden als Volk haben berechtigte Forderungen nach Freiheit, nach Beendigung der Unterdrückung seit Menschengedenken, nach Eihaltung der Menschenrechte. Ihre miserable Lage rechtfertigt jedoch nicht Mord und Terror gegen Unschuldige. […] Die zahlreichen Übergriffe der Kurden werden vermutlich Konsequenzen nach sich ziehen. […] Und in Deutschland und den anderen europäischen Staaten die Überwachung der Gäste aus den Krisenregionen intensiviert. Die Sympathien sind drastisch abgekühlt. Das ist der Lohn der Gewalt.“xxi
Wilhelm Christbaum sollte Recht behalten: Im November 1993 werden die PKK und ihr nahestehende „kurdische Vereine“ verboten, was auch Auswirkungen auf „kurdische Vereine“ in München hat.xxii In vielen „kurdischen Vereinen“ wurde die Sympathie zur Ideologie der PKK wie auch ihrer Aktionen bis dahin teilweise offen zur Schau gestellt. Die Vereinsräume zeigten Bilder der PKK-Führung, kämpferische Parolen sowie die Fahne der PKK.xxiii Die Vereinsmitglieder unterstützen mit Geldspenden, Kundgebungen, Schulungen und Demonstrationen die PKK.xxiv
Zu den PKK-nahen und nach 1993 verbotenen Vereinen gehören „Komalar, Kurdistan-Kurdische Unabhängigkeit-Internationale Freundschaft e.V. München“ sowie der „Kurdische Elternverein e.V.“ in München.
Aufgrund der Überwachung des „Kurdischen Elternvereins e.V.“ werden in den Vereinsräumen vermeintliche PKK-Anhänger festgenommen sowie Beweismittel zu PKK-Operationen gesichert, obwohl vom Vorstand stets eine Nähe zur Gesinnung oder Aktionen der PKK bestritten wurde.xxv
Neben den Verboten von „kurdischen Vereinen“ ist feststellbar, dass ab 1993 verschiedene Veranstaltungen von „Kurd_innen“ in München zunehmend behördlich verweigert werden, indem unterstellt wird, dass diese als Plattformen für PKK-Interessen genutzt werdenxxvi. Im Februar 1996 setzt sich die Stadt München mit Vertreter_innen der Partei Bündnis 90/Die Grünen und „Kurd_innen“ aus München zusammen, um den Aufbau von gesetzeskonformen „kurdischen Vereinen“ zu unterstützenxxvii. Kennzeichnend für die seitdem neuentstehenden „kurdischen Vereine“ ist der bewusste Verzicht auf Symbole, die der PKK zugeordnet werden können.
Foto: München, 22.12.2016 (© L.E.)
Sie bemühen sich jeglichen behördlichen und gesetzlichen Bestimmungen gerecht zu werden, um eine Distanzierung zur PKK sichtbar zu machen. Die bis Ende 1993 in „kurdischen Vereinsräumen“ hängenden „Portraits von Apo Abdullah Öcalan“, „Märtyrern“ sowie der „Flagge mit gelben Kreis und dem darauf gesetzten roten Stern, dem Symbol der PKK“xxviii, sind dort heute nicht mehr zu finden, wie ich bei eigenen Besuchen in den Jahren 2016 und 2017 feststellen konnte.
Jedoch stehen „kurdische Organisationen“ weiterhin unter Verdacht. Politisch wird dieser Kurs beispielsweise von den Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE (Ulla Jelpke, Christine Buchholz und Inge Höger) in einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung offen kritisiert. Sie weisen im Jahr 2011 darauf hin, dass aufgrund des Betätigungsverbots der PKK, „kurdische Migrant_innen“ und konkret ihre „kurdischen Organisationen“ insgesamt „kriminalisiert, stigmatisiert und als Folge dessen, doppelter Ausgrenzung ausgesetzt“xxix sind.
Verfasserin: L.E.
Literatur
I Senol, Sengül (1992): Kurden in Deutschland. Fremde unter Fremden. Frankfurt am Main. 186. (weiterlesen...)
II Vgl. Gottschlich, Jürgen (1991): Zurückweisen, Abschieben, Wegsehen: Folter ist kein Asylgrund. Die Kurden in Deutschland. In: Nirumand, Bahman (Hg.): Die kurdische Tragödie. Die Kurden – verfolgt im eigenen Land. Hamburg. 169f. (weiterlesen...)
III Vgl. ebd. 169f. (weiterlesen...)
IV Vgl. ebd. 169f. (weiterlesen...)
V Vgl. ebd. 169f. (weiterlesen...)
VI Vgl. ebd. 169f. (weiterlesen...)
VII Senol, Sengül (1992): Kurden in Deutschland. Fremde unter Fremden. Frankfurt am Main. 188. (weiterlesen...)
VIII Eine geografische Zuordnung „Kurdistans“ ist aufgrund historischer Verläufe schwierig. Ich beziehe mich in meiner Arbeit auf die Beschreibung von Martin Strohmeier und Lale Yalcin-Heckmann. (weiterlesen...)
IX Senol, Sengül (1992): Kurden in Deutschland. Fremde unter Fremden. Frankfurt am Main. 192. (weiterlesen...)
X Ebd. 191. (weiterlesen...)
XI URL: http://www.komkar.org/wer-wir-sind/selbstdarstellung/ [10.02.2017]. (weiterlesen...)
XII Wehr, Bärbel (2000): Rechtsverständnis und Normakzeptanz in ethnopluralen Gesellschaften. Eine rechtsanthropologische Untersuchung über das Verhältnis Deutscher kurdischer Abstammung aus der Türkei in München zur deutschen Rechtsordnung. München. 127. (weiterlesen...)
XIII Roll, Evelyn (1998): Wenn Kurden Hochzeit feiern. Süddeutsche Zeitung vom 11.05.1998. (weiterlesen...)
XIV Die PKK wurde 1978 von Abdullah Öcalan in der „kurdischen“ Region Ostanatolien in der Türkei als marxistisch-leninistisch orientierte Organisation gegründet. Ihr Ziel ist es, durch einen Guerillakrieg einen unabhängigen „kurdischen Staat“ herbeizuführen. (Verfassungsschutzbericht Bayern 2015: Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Hg.). München. 77). (weiterlesen...)
XV Stein, Gottfried (1994): Endkampf um Kurdistan? Die PKK, die Türkei und Deutschland. Bonn. 108. (weiterlesen...)
XVI Vgl. ebd. 108ff. (weiterlesen...)
XVII Bayerisches Staatsministerium der Inneren (1996): Kurdischer Extremismus. Der Verfassungsschutz informiert. Bayreuth. 6. (weiterlesen...)
XVIII Art. 3 BayVSG – Aufgaben: Das Landesamt hat die in § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes (BVerfSchG) bezeichneten Aufgaben. Es beobachtet ferner zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG). (weiterlesen...)
XIX Wehr, Bärbel (2000): Rechtsverständnis und Normakzeptanz in ethnopluralen Gesellschaften. Eine rechtsanthropologische Untersuchung über das Verhältnis Deutscher kurdischer Abstammung aus der Türkei in München zur deutschen Rechtsordnung. München. 128. (weiterlesen...)
XX Stein, Gottfried (1994): Endkampf um Kurdistan? Die PKK, die Türkei und Deutschland. Bonn. 120. (weiterlesen...)
XXI Christbaum, Wilhelm (1993): Kurden tragen Terror nach Deutschland. Lohn der Gewalt. Münchner Merkur vom 25.06.1993. (weiterlesen...)
XXII Holzhaider, Hans (1995): Innenministerium verbietet fünf kurdische Vereine. Süddeutsche Zeitung vom 03.03.1995. (weiterlesen...)
XXIII Stein, Gottfried (1994): Endkampf um Kurdistan? Die PKK, die Türkei und Deutschland. Bonn. 108. (weiterlesen...)
XXIV Ebd. 109. (weiterlesen...)
XV Holzhaider, Hans (1995): Offener Treffpunkt, aber nicht für Gewalttäter. Süddeutsche Zeitung vom 10./11.06.1995. (weiterlesen...)
XVI Wehr, Bärbel (2000): Rechtsverständnis und Normakzeptanz in ethnopluralen Gesellschaften. Eine rechtsanthropologische Untersuchung über das Verhältnis Deutscher kurdischer Abstammung aus der Türkei in München zur deutschen Rechtsordnung. München. 129. (weiterlesen...)
XVII Ebd. 129. (weiterlesen...)
XVIII Stein, Gottfried (1994): Endkampf um Kurdistan? Die PKK, die Türkei und Deutschland. Bonn. 105. (weiterlesen...)
XXIX BT-Drs. 17/4727. (weiterlesen...)
XXX Strohmeier, Martin / Yalcin-Heckmann, Lale (2016): Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur. München. 20. (weiterlesen...)